Als ich in den Nullerjahren als Teenagerin in einem luxemburgischen Dorf aufwuchs, hätte mein Leben nicht weniger Hip-Hop sein können. Meine geschiedenen Eltern wohnten jeweils in einem eigenen Haus, ich fuhr zweimal im Jahr mit ihnen in den Urlaub und bekam private Nachhilfestunden, weil ich eine Matheklausur nach der anderen verhaute. Dennoch hingen in meinem Zimmer Poster von Aggro Berlin und 50 Cent in kugelsicherer Weste. Ich eignete mir eine Sprache an, die mein Vater als “Gossensprache” bezeichnete. Mit 15 führten mich zwei Polizeibeamte aus einem Laden in der Einkaufsstraße ab, nachdem ich meine Freundinnen über mehrere Wochen zum Diebstahl angestachelt hatte.
Ich erzähle das nicht, um mit meinem Leben zu flexen, sondern weil es im Journalismus in jeder halbwegs jungen Redaktion mindestens zwei von meiner Sorte gibt. Menschen, in deren Zuhause es ein Arbeitszimmer und eine Bücherwand gab und für die Hip-Hop vor allem ein Hobby war oder ist. Eine Maske, hinter der sie als finanziell schwache Klasse performen, bis sie zurück in ihre Doppelhaushälfte oder ihre Eigentumswohnung zum Familienabendessen schleichen können. Eine Kultur, die sie nicht immer verstehen, die sie aber fasziniert, weil sie nicht so ist wie das, womit sie aufgewachsen sind. Das Andere eben. Abgrenzung.
Jetzt wäre es natürlich einfach und etwas anmaßend, die Barrieren hochzuziehen und zu sagen: Obere-Mittelschicht- und Oberschichtenkids dürfen sich in ihrem Journalismus nicht mit Subkulturen beschäftigen, von denen sie nicht Teil sind, und wenn sie es doch tun, dann sind sie peinliche Möchtegerne. Ich würde sagen: Gute Journalist:innen setzen sich so umfassend mit einem Thema und so reflektiert mit ihrer eigenen Position darin auseinander, dass das eine das andere nicht beeinflusst.
Tatsächlich muss man nicht erst nach Gräfenhainichen zum Splash!-Festival fahren, um zu sehen, wie oft die Kombination von Hip-Hop und kulturfremden Journalist:innen in einer Arie des falsch verwendeten Szenejargons und der zwanghaften Abkumpelei ausartet. Auch weit abseits des Feldes stülpt die Kulturelite der deutschen Feuilletons ihre pseudointellektuellen Ansichten in aller Regelmäßigkeit über das Genre, missinterpretiert Botschaften, erkennt kulturelle Referenzen nicht, befasst sich nicht mit den Künstler:innen und ignoriert soziale Problematiken, wenn sie es doch tut.
Das ist nicht nur deshalb schade, weil sich die schreibenden Personen in diesen Beispielen entweder nicht mit ihrem Sujet auseinandersetzen oder ihre Faszination für Gangsterrap und seine Akteur:innen so offen vor sich hertragen, dass jegliche journalistische Distanz fehlt. Es wirkt auch mindestens konstruiert, immer wieder von außen zu versuchen, etwa Cardi B und Megan Thee Stallion für Werke wie WAP eine radikal feministische Agenda zu unterstellen oder bei Kanye West von “Genie und Wahnsinn” sprechen, ohne sich auch nur in einer Zeile mit dessen Bipolarität auseinanderzusetzen.
Vor allem aber zielt diese Art der Auseinandersetzung mit Hip-Hop sehr weit an all den Menschen vorbei, die sich im Alltag mit der zugehörigen Kultur auseinandersetzen. Die sich mit den Problematiken dahinter identifizieren können. Die Hip-Hop und Rap nicht als “Unterschichtengenre” konsumieren oder ironisch “amk” in den Arbeitschat schreiben, sondern für sich selbst. Diejenigen, die nicht von außen in diese Welt hineinschauen, sondern in ihr leben. Und die sich ihre Hip-Hop-News am Ende lieber auf YouTube-Kanälen wie dem von Leon Lovelock holen, weil es für sie sonst kaum Angebote gibt.
Denn obwohl mittlerweile auch in größeren Medien abseits der Genremagazine Hip-Hop stattfindet, dreht sich deren Berichterstattung noch immer oft um Texte, die den Skandalen der Branche oder den Artists selbst hinterher hecheln. Auch deswegen leisten wirklich gute deutschsprachige Musikjournalist:innen in diesem Umfeld Pionierarbeit. Sie bringen Diversität in ihre Themenauswahl, nehmen Hip-Hop und die Personen dahinter ernst, verstehen die kulturelle Komponente. Vor allem aber biedern sie sich dem Genre nicht an und performen Street Credibility, wenn sie höchstens über Kreditwürdigkeit verfügen.
Es ist total okay, Hip-Hop zu schätzen, ohne Hip-Hop nachzuahmen. Ich wohne heute nicht mehr in meinem luxemburgischen Dorf, sondern miete alleine eine Wohnung in einem halb gentrifizierten Viertel von Berlin. Meine Spotify-Playlists sind nach wie vor voll mit Lyrics über Probleme, die ich niemals selbst so erleben werde, und trotzdem habe ich großen Spaß daran, sie mir anzuhören. Nur so zu tun, als könne ich diese Dinge nachvollziehen oder sie von außen bewerten, das brauche ich nicht. I’m a white woman enjoying Hip-Hop, but I’m far from being Hip-Hop myself. Und es muss auch niemand so tun, als sei das anders.
Rebecca Baden schreibt als freie Journalistin über Politik, Gesellschaft und Popkultur für Vice, Zeit Online und Funke. Träumt ansonsten von einem Netflix-Format, bei dem sie um die Welt reisen und essen darf.