madvillainy. trost in sound
durch die pandemie mit cornflakes, knarz puff peng und den illest villains
Als Musikjournalistin ist es eigentlich mein Job, immer wieder den heißen neuen Scheiß zu hören. Natürlich. Der nächste Hype wartet um die Ecke, und am Ende ist es wie überall im Kapitalismus: früh dran sein, früh dabei sein, früh am Start sein und Coolness-Punkte a.k.a. maximales popkulturelles Kapital dafür abgreifen. Aber was, wenn da eine Pandemie dazwischen kommt? Die Welt um uns herum zusammenbricht? Die Apokalypse leise anklopft und die Maske der ewigen popkulturellen Blasiertheit – alles schon gesehen, alles schon gehört, alles schon geballert – vom Gesicht rutscht?
So wie die klassische Hausmannskost in der Pandemie ihre Renaissance erlebte (einige Wochen lang war nichts in Berlin cooler als eine Leberkässemmel, Weinhipster vertickten plötzlich eingemachtes Kesselgulasch, und die halbe Stadt stand in einem Hinterhof in Mitte für eine gebutterte Käsestulle an), zog es mich zurück in meinen musikalischen safe space. Back to the roots, Musik, die sich wie eine dicke Decke der Geborgenheit auf die Seele legt.
Es gibt schon allerlei Studien, die diese oder jene Auswirkung auf den Musikkonsum in Covidzeiten beweisen wollen. Mal heißt es, Musikstreaming würde gegen das Radio abstinken (Komplexitätsreduktion!), mal wird Spotify zum großen Gewinner der Pandemie ausgerufen. Eine Analyse kürt Ambient zum beliebtesten Musikgenre, eine andere Klassik. In meinem Freund:innen- und Bekanntenkreis zeigt sich zumindest anekdotisch, dass ich nicht alleine bin mit meiner Sehnsucht nach Altbekanntem. In der unsichersten und verunsicherndsten Zeit, die unsere Generationen als privilegierte Kinder des globalen Nordens bisher erleben mussten, scheint die Lust darauf, aktiv Neues zu entdecken, ziemlich gering.
Statt aktuelle und kommende Releases durchzuhören, hatte ich geradezu kindische Freude daran, stundenlang mit Pop-Punk und Nu-Metal, der unfassbar schlecht gealtert ist, auf den Ohren durch die Stadt zu fahren, bis die Beine aufgaben und die pandemische anxiety endlich nachließ. Kein Wunder, dass zahlreiche Künstler:innen ihre neuen Veröffentlichungen hin und her verschoben in der Hoffnung auf ein Ende der Pandemie, das, wie wir ja alle täglich erleben, einfach nicht kommen will.
Was erschien und internationalen Erfolg hatte, blieb dem Prinzip der Nostalgie treu: Kylie Minogue, Róisín Murphy und ihre Nachfahr:innen im Geiste. Dua Lipa, deren Album sogar Future Nostalgia hieß, und The Weeknd ließen das goldene Diskozeitalter aufleben. Bob Dylan tat, was Bob Dylan halt so tut, Taylor Swift nahm zwei Alben auf, die in Sound und Gefühl warmem Apfelkuchen fürs Indieherz glichen. Die musikjournalistische Presse lag ihr zu Füßen.
Apfelkuchen mochte ich aber nie so recht. Meine Nostalgierezeptoren springen woanders an. Und so war meine Platte der Pandemie weder Evermore noch Folklore und auch keine heiße Diskonummer, die mich doch nur an all das erinnern konnte, was mir so sehr fehlt. Nein, jederzeit würde ich ein Stück matschigen Teig mit ein paar Früchten eintauschen gegen den wohligen Trost einer Schüssel zuckriger Cornflakes. Aufgeweicht in kalter Milch, so wie sie nur am Sonntagmorgen auf dem Sofa schmecken, wenn man aus dem Bett herausgeschlichen ist, um Trickfilme im Wochenendprogramm zu erwischen.
Geborgenheit in Form komplexer Rhymes, gegossen in knarzige Beats, ausgerollt auf überladenen Soundteppichen mit Versatzstücken aus B-Horrorfilmen, die an den wohligen Thrill erinnern, den man fühlt, wenn man sie nachts heimlich schaut. Musik, die klingt, als säße man auf der Rückbank im Auto und betrachtete eine durch Regentropfen verzerrte Welt, die hinter Fensterscheiben an einem vorbeirollt. Ein Album, das an die Tage erinnert, an denen man noch darauf wartete, dass das Leben endlich richtig anfängt. Ich sehnte mich nach Nostalgie, aber keiner, die die Vergangenheit in vermeintlichem Gold anstreicht, sondern sie eher wie ein freundliches Gespenst aus der Vergangenheit begrüßt, mit dem man nachmittags eine Tasse Kaffee trinkt oder einen Blunt raucht. Wenn man das denn möchte.
Musik, wie sie nur das Zusammentreffen zweier Wahnsinniger, Kindsköpfe und Genies hervorbringen kann. Musik, die nur einen Namen hat: Madvillainy.
Madvillainy, das ist so viel mehr als nur ein Album, das der Rapper MF Doom und der Produzent Madlib unter dem Namen Madvillain aufgenommen haben. Es ist eine dieser Platten, wie sie nur ganz selten zustande kommen, Musik für die Ewigkeit, eben weil sie außerhalb von Zeit und Raum stattfindet. Schon 2004, als Madvillainy erschien, fiel es aus der damaligen Geschmackskonjunktur heraus. Madlib dockte nie an den Zeitgeist an, sondern schwebte schon immer in seinem eigenen Raum. Ganz buchstäblich: Laut Pitchfork nennen ihn seine eigenen Familienmitglieder “the unseen”. Er lebt zurückgezogen und vergräbt sich in seiner Arbeit.
Für den im vergangenen Oktober überraschend verstorbenen MF Doom, der nach schlechten Erfahrungen mit der Musikindustrie und privaten Rückschlägen seit Jahren an der Peripherie des Hip-Hop entlang krebste, sollte Madvillainy zum unangefochtenen Karrierehighlight werden. Seinen sonst aggressiveren Flow tauschte er für diese Kooperation gegen einen entspannteren, dabei sogar selbstbewussteren ein. Für seine Liebe zu obskuren Film- und Comicreferenzen fand er in Madlib einen Bruder im Geiste.
Ich entdeckte das Album erst Jahre nach seiner Veröffentlichung – und gebe mir seitdem Mühe, die verlorene Zeit aufzuholen. Auf Madvillainy höre ich etwas, was ich sonst nur bei Burial finde: eine gebrochene Nostalgie, bei der die Vergangenheit wie ein Schatten am Tisch sitzt, beim Spaziergang dicht hinterher läuft, im Auto auf dem Beifahrersitz dabei ist. Es tut ein bisschen weh, aber es ist auch ein bisschen schön. Es ist ehrlich und wahrhaftig, denn es packt dieses ominöse Früher nicht in Katzengold, sondern lässt es nur noch als flüchtige Erscheinung durchs Bild huschen. Denn “Früher” ist eine Chimäre, die ihren verführerischen Schein doch nur aus der Unzufriedenheit im Heute und der Angst vor dem Morgen schöpft. Und das ist auch völlig okay.
In diesen Tagen des endlosen Lockdowns, mit wenig Perspektive auf eine baldige Rückkehr in irgendeine Normalität (was soll das überhaupt sein?) fliehe ich mich gerne in diesen Raum, den MF Doom und Madlib schufen, zwischen B-Movies und Steve-Reich-Samples, zwischen Weedromantik und Scooby Doo, und ziehe mich mit meiner Schüssel durchgeweichter Cornflakes in eine quietschbunte Welt der nicht-so-bösen Bösewichte zurück, eine Welt von “knarz puff peng”, eine Welt, in der das Leben da draußen noch ein bisschen warten kann. Und die Releases der Woche? Kann ich auch noch morgen hören.
Aida Baghernejad ist freie Kulturjournalistin und beschäftigt sich am liebsten mit den schönen Dingen im Leben: Popkultur und Essen. Als Podcasterin und Moderatorin lebt sie ihre nerdigen Teenieträume von einer Karriere zwischen MTV und Polittalkshows aus. Irgendwann beendet sie vielleicht noch ihre Promotion. Sie lebt meist in Berlin, manchmal in London und vor allem im Internet. Das Foto von Aida hat Tabea Mathern gemacht.